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Ganz allmählich beschleicht mich ein mulmiges Gefühl. Als die Corona-Beschränkungen schrittweise in Kraft gesetzt wurden, war die Begründung dafür stets plausibel und die Regierung bemühte sich um scheinbar größtmögliche Aufklärung: Es gehe darum, die Kurve der Neuinfektionen abzuflachen, einen exponentiellen Verlauf abzuwenden und nach Möglichkeit die Replikationszahl des Virus unter den Faktor 1 zu drücken. Nach 10-14 Tagen, entsprechend der erwartbaren maximalen Inkubationszeit, müssten sich die Erfolge der Eindämmungspolitik einstellen. Das leuchtete ein.
Nun ist fast ein kompletter Infektionszyklus seit Einführung selbst der verschärften Maßnahmen vergangen. Die Kurve ist abgeflacht, zumindest den exponentiellen Anstieg gab es nicht. Doch wenn wir die Schlagzeilen und politischen Verlautbarungen vernehmen, klingt es so, als sei es alles noch viel schlimmer als vor 14 Tagen. Kein Grund zur Entwarnung, im Gegenteil. In immer größeren Bildern und drastischeren Worten wird die Gefahr beschworen; wie tödlich das Virus mittlerweile sei, dass es sich immer schneller und über immer neue Wege verbreitet. Und immer wieder dies: Die große Katastrophe stehe erst noch bevor. Denn – O Wunder – die Neuinfektionen steigen weiter.
Gerade diese Zahl der Neuninfektionen aber, die als Grundlage all dieser düsteren Verlautbarungen herhalten soll, hat überhaupt keinen Aussagewert. Denn je mehr Corona-Tests durchgeführt werden, desto mehr Infektionen werden auch ermittelt – und die Zahl der Tests wird stetig ausgeweitet. Schon deshalb ist das von Merkel ausgegebene Ziel, das Intervall der Fallverdoppelungrate müsse auf 10 Tage verlangsamt werden, völlig willkürlich.
Zu den Testergebnissen selbst werden der Bevölkerung wesentliche Variablen vorenthalten: Wieviele Tests in absoluten Zahlen wurden durchgeführt? Wie viele davon waren negativ? Wie verändert sich das Verhältnis zwischen positiven und negativen Testergebnissen? Wer sich etwa auf der Webseite des RKI einen Wochenbericht zu Influenza anschaut, findet dort sowohl positive als auch negative Testberichte, detaillierte Tabellen und Diagramme mit allen relevanten Metadaten. Wieso fehlen diese Informationen bei Corona?
Eine realistische Risikobewertung kann nur durch repräsentative Breitentests funktionieren, durch Stichproben der Gesamtbevölkerung. So wie es bei Meinungsumfragen gelingt, Wahlergebnisse auf Kommastellen genau vorherzusagen, ließe sich die Dunkelziffer eliminieren und damit die tatsächliche Verbreitung von Corona in Deutschland in Windeseile erfassen; man könnte belastbarere Aussagen zur tatsächlichen Mortalität machen - und auch gewisse Rückschlüsse auf das Erreichen einer Herdenimmunität ziehen. Dies hätte schon von Beginn der Maßnahmen an engmaschig verfolgt werden müssen. Gewiss, es gab und gibt zu wenige Tests, wird uns entgegnet – doch diese demographische Dauerkontrolle ist doch zur Lagebewertung unerlässlich; gerade mit Blick auf die immer deutlicher zutage tretenden Folgen und Langzeitschäden der Maßnahmen.
Dass uns Laien dieses Versäumnis lange nicht auffiel, ist wohl verzeihlich. Dass jedoch Virologen, Epidemiogen, Statistiker, die sich von Beruf wegen mit Modellrechnungen und Krankheitsszenarien befassen, nicht von vornherein die unbedingte Notwendigkeit von repräsentativen Stichprobentests erkannten und sich bis heute dagegen sträuben, ist schlicht nicht zu begreifen. Tatsächlich mehren sich erst in den letzten Tagen auch kritische Stimmen unter den Experten, die hier ein Umdenken fordern.
Doch die Zahlen, mit denen bislang der strenge Kurs freiheitsberaubender Maßnahmen als alternativlos begründet wird, sind nicht nur unrepräsentativ. Sie sind auch vorsätzlich irreführend. Bereits am Montag ließ RKI-Chef Wielers Geständnis aufhorchen, dass die gemeldeten Todesfälle – entsprechend der auch in anderen EU-Staaten praktizierten Zählweise – ALLE Verstorbenen umfasst, die zum Zeitpunkt ihres Todes auf Covid-19-positiv getestet waren. Wer also an Nierenversagen oder an Krebs stirbt und überhaupt keine Lungenprobleme hatte, jedoch infiziert war, ist ein „Corona-Toter“. Das hohe Durchschnittsalter von über 80 Jahren und vor allem die hohen Fallzahlen in Pflegeheimen verwässern die Mortalitätsbilanz des Virus zusätzlich. Diese wichtigen Hintergrundinformationen fehlen in der Sensationsberichterstattung und in den täglichen Katastrophenbulletins; dort ist dann allenfalls der Euphemismus „an und mit Corona gestorben“ zu hören.
Was in der Krisenkommunikation ebenfalls nicht korrekt berücksichtigt wird, ist die steigende Zahl der Geheilten. Diese ist ja von der jeweils ermittelten Gesamtzahl der Infizierten noch in Abzug zu bringen – was eine völlig andere Nettobilanz ergibt: Von gestern auf heute wurden beispielsweise rund 5.000 offizielle neue Infektionen verkündet; gleichzeitig gab es 4.500 Genesene mehr. Das Mindeste wäre, nur die tatsächlich Zahl der jeweils Infizierten (abzüglich der Geheilten) zu vermelden. Doch anscheinend wäre dies nicht alarmistisch genug.
Solange solche Basics der Aufklärung nicht gegeben sind – ein gänzliches Unding, angesichts der extremen Auswirkungen des Lockdowns! - muten Diskussionen über weitere Maßnahmen, etwa den neuen Massenhype des Maskennähens und deren Tragepflicht, oder über völlig ineffiziente Apps (die nachträglich den Aufenthalte im Nahbereich von Infizierten anzeigen, solange diese länger als 15 Minuten andauerten), zusehends wie blanke Ablenkungsmanöver und aktionistische Beschäftigungstherapien an.
Man sollte uns endlich reinen Wein einschenken – und mit transparenten, nachvollziehbaren und vor allem endlich repräsentativen Daten operieren, die eine realistische Einschätzung des Infektionsgeschehens erlauben. Anhand dieser muss dann zweierlei verbindlich erklärt werden: Erstens - was sind die Etappenziele, von denen dann auch eine Lockerung der Beschränkungen abhängt? Zweitens - was ist die perspektivische Langfriststrategie für die nächsten sechs bis neun Monate? Es kann und darf nicht angehen – und den Anschein hat es zur Zeit leider – dass sich die Politik an den Ausnahmezustand gewöhnt und ihn durch eine wohltemperierte Mixtur von Hoffnungsschimmer und Panikmache künstlich aufrechterhält. So werden öffentlicher Stillstand und das Durchhaltevermögen der Bevölkerung zum Selbstzweck.
Ich gebe offen zu: Ich selbst weiß nicht, ob der eingeschlagene Kurs richtig ist und was die Alternative sein könnte. Aber es beunruhigt mich enorm, dass ganz offensichtlich die, die es wissen sollten und denen wir uns sorglos anvertrauen - Experten und Politiker - selbst im Blindflug sind.